„Tischbein“, schrieb Johann Wolfgang Goethe im Dezember 1786 an seinen Weimarer Herzog Carl August, „ist mir unentbehrlich. So einen reinen, guten, und doch so klugen ausgebildeten Menschen hab ich kaum gesehen. In seinem Umgange beleb ich mich aufs neue, es ist eine Lust sich mit ihm über alle Gegenstände zu unterhalten, Natur und Kunst mit ihm zu betrachten und zu genießen“.
Spross einer hessischen Malerdynastie
Goethe war am 29. Oktober 1786 in Rom eingetroffen und schon am nächsten Tag in das Haus am Corso gezogen, wo Johann Heinrich Wilhelm Tischbein lebte. Der Maler stammte aus einer hessischen Künstlerdynastie. Er wurde am 15. Februar 1751 in Haina geboren. Die Tischbeins waren seit 1685 Bedienstete des dortigen Hospitals. 1729 fiel einem Darmstädter Rat, der die Jahresrechnung des Hospitals überprüfte, ein Junge auf, der mit großem Geschick in der Klosterkirche den Evangelisten Lukas abmalte. Das war Johann Valentin Tischbein, mit dem die Dynastie ihren Anfang nahm. Johann Valentin wurde Hofmaler der Grafen von Solms-Laubach und ebnete zweien seiner Brüder den Weg in den Malerberuf. Johann Heinrich Wilhelm Tischbein war der Sohn eines weiteren Bruders, des Klosterschreiners Conrad Tischbein. „Mich nannten sie den Maler“, schrieb Johann Heinrich Wilhelm Tischbein später in seinen Jugenderinnerungen, „weil ich einmal an die Wand mit Kohle eine Zeichnung gemacht hatte: Hirsche und wilde Eber, wie sie vor dem Jäger zu Pferde und den Hunden laufen“.
Italien-Stipendium der Kasseler Akademie
Er wurde Schüler seiner beiden erfolgreichen Maleronkel Johann Heinrich (der Ältere) in Kassel und Jacob in Hamburg. Eine Studienreise führte ihn nach Holland; er hielt sich in verschiedenen deutschen Städten auf und machte sich, vor allem in Berlin, einen Namen als Porträtmaler. Um sich weiterzubilden und seinen Blick an den antiken Kunstwerken zu schulen, bewarb er sich 1779 um ein Italien-Stipendium der neu gegründeten Kasseler Akademie, das er auch erhielt. Von 1779 bis 1781 lebte er in Rom, wo er sich auch der Landschafts- und Historienmalerei widmete, bis seine finanziellen Mittel erschöpft waren. Nach Aufenthalten in Zürich und Kassel konnte er 1783 erneut nach Rom reisen. Goethe, der Arbeiten von ihm kannte, hatte sich beim Herzog von Gotha-Altenburg für ein weiteres Stipendium eingesetzt. In Rom und wohl unter dem Einfluss Goethes wandte sich Tischbein vom Rokoko-Stil dem Klassizismus zu.
Berühmtestes Gemälde: Goethe in der Campagna
Für Goethe wurde er zum Führer durch die römische Antike. Gemeinsam unternahmen sie im Februar 1787 eine Reise nach Neapel. Bereits Ende 1786 hatte Tischbein den Freund vor römischen Ruinen sitzend gezeichnet. Daraus entstand im Lauf des Jahres 1787 Tischbeins berühmtestes Gemälde Goethe in der Campagna, das heute im Frankfurter Städel hängt. Am 9. Dezember 1786 schrieb Tischbein an seinen Züricher Bekannten, den Theologen und Schriftsteller Johann Kaspar Lavater: „Ich habe sein Porträt angefangen, und werde es in Lebensgröße machen, wie er auf denen Ruinen sizet und über das Schicksaal der Menschligen Wercke nachdencket. Sein Gesicht will ich recht genau und wahr nach zeichnen. Denn man kann wohl keinen glückligern und austrucksvolleren Kopf sehen.“ Im Juli 1787 übersiedelte Tischbein nach Neapel, wo er 1789 zum Direktor der dortigen Kunstakademie ernannt wurde. An der gemeinsam geplanten Reise nach Sizilien nahm er nicht mehr teil. Goethe fuhr mit dem Zeichner Christoph Heinrich Kniep und fühlte sich von dem Freund vernachlässigt. Das scheint sein Verhältnis zu Tischbein getrübt zu haben. Goethe, der noch bis Juni 1788 in Rom blieb, äußerte sich in dieser Zeit wenig schmeichelhaft über Tischbein.
Hofmaler des Herzogs von Oldenburg
Als französische Revolutionstruppen 1799 Neapel besetzten, musste er fliehen. Er ging nach Kassel, wo einer seiner Brüder lebte, und gründete wenig später in Göttingen eine ‚Zeichenakademie für Damen‘. 1801 übersiedelte er nach Hamburg und trat in Beziehung zum Herzog von Oldenburg, der ihn 1808 zum Hofmaler und Galeriedirektor in seiner Eutiner Sommerresidenz machte. Durch die Freundschaft mit Philipp Otto Runge kam er in Verbindung mit den frühen Romantikern, die sein Spätwerk beeinflussten. Bis zu seinem Tod am 26. Februar 1829 entstanden in Eutin noch zahlreiche Porträts und Historiengemälde. Herausragend ist sein vierzig kleinformatige Gemälde umfassender Idyllen-Zyklus mit schwebenden und tanzenden Nymphen, Faunen, Hirten und Kentauren im Stil pompejanischer Wandmalereien. Tischbein schickte Goethe 1821 eine Auswahl „hingeworfener Zeichnungen“, die dem Dichter offenbar genügten. Goethe verfasste zu den aquarellierten Skizzen Verse und Prosakommentare, die 1822 als Wilhelm Tischbeins Idyllen erschienen. Die frühere Verstimmung war lange vergessen. Schon in seiner Italienischen Reise hatte sich Goethe 1816/17 wieder freundlich über Tischbein geäußert.